Mit Behinderung selbstbestimmt durchs Leben: Ist das in der Schweiz möglich?

Inklusion und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung sind Themen, die in den Medien und in der Politik zunehmend propagiert und diskutiert werden. Doch was bedeutet dies für Menschen mit Behinderung in der Realität? 

Vom 15. Mai bis 15. Juni 2024 fanden die nationalen Aktionstage Behindertenrechte statt. Die Schweiz feierte das 20-jährige Bestehen des Behindertengleichstellungsgesetzes und das 10-jährige Bestehen der UNO-Behindertenrechtskonvention. Dies brachte Menschen mit und ohne Behinderung miteinander in Kontakt und sensibilisierte für die Bedeutung der Behindertenrechte.

Wir wollen auch aktiv auf Menschen mit Behinderung zugehen und uns für einen Perspektivenwechsel einsetzen. Simone Leuenberger hat sich dafür zur Verfügung gestellt. Sie berichtet aus ihrem Blickwinkel und beleuchtet die Themen auch kritisch.

Simone Leuenberger, Behindertenpolitik

Simone Leuenberger lebt mit einer Muskelkrankheit (Spinale Muskelatrophie SMA). Aufgrund dieser Behinderung ist sie auf einen Elektrorollstuhl und Unterstützung im Alltag angewiesen. Simone Leuenberger zeigt, wie ein selbstbestimmtes Leben für einen Menschen mit einer Behinderung aussehen kann. Sie betont immer wieder, dass sie dies alles ohne ihre persönlichen Assistenzpersonen nicht schaffen würde. In ihrer Rolle als Arbeitgeberin kann sie sagen, was sie von ihren Assistent/-innen braucht. Sie hat drei Assistenzpersonen und eine Springerin eingestellt, die sie seit mehr als 10 Jahren unterstützen. Sie lebt in einer Wohngemeinschaft mit einer Kollegin, fährt ihr eigenes Auto und geht aktiv ihren Hobbys nach.

Simone Leuenberger ist Arbeitnehmerin und Arbeitgeberin zugleich. Sie unterrichtet Wirtschaft und Recht am Gymnasium Thun. Als Mitglied des Berner Kantonsparlamentes (EVP) und auch als Privatperson setzt sie sich aktiv für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein und hat bereits erste Erfolge erzielt. Sie schätzt das Privileg sehr, den Kanton Bern aktiv mitgestalten zu dürfen.

Übrigens haben wir uns in diesem Blogbeitrag bewusst für das Wort "behindert" entschieden. Schliesslich geht es auch offiziell um Behindertenrechte und die UNO-Behindertenrechtskonvention.

 

Aline Beutler: «Inklusion und selbstbestimmtes Leben, was verstehst du darunter?»

Simone Leuenberger: «Ich kann meinen Alltag selbst gestalten, habe Träume und Visionen und verfolge sie. Ich entscheide, wie ich leben will, welchen Hobbys ich nachgehe, wann ich reise, wann ich ins Bett gehe und wann ich in die Kirche gehen will. Ich bin Teil der Gesellschaft. Natürlich kann ich das alles nicht ohne Unterstützung machen. Aber durch das Anstellen von persönlichen Assistent/-innen entscheide ich, wann, wo und wie ich Unterstützung brauche. Bei der Assistenz gibt es noch Aufklärungs- und Informationsbedarf. Da nur wenige Menschen über diesen Beruf Bescheid wissen, ist es nicht verwunderlich, dass es (noch) an entsprechenden Assistenzpersonen mangelt. Inklusion bedeutet auch, Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Für Arbeitgeber bedeutet dies, ein barrierefreies Umfeld zu schaffen.»

 

Aline Beutler: «Was hat die Subjektfinanzierung mit einem selbstbestimmten Leben zu tun?»

Simone Leuenberger: «Die Subjektfinanzierung allein ist kein wirklicher Schritt zur Selbstbestimmung. Bei der Subjektfinanzierung wird der effektive Unterstützungsbedarf einer Person ermittelt.

Wenn ich meinen Bedarf individuell abgeklärt habe, aber trotzdem verpflichtet bin, diesen bei bestimmten Leistungserbringern, zum Beispiel Institutionen oder Dienstleistungen von Institutionen, zu decken, dann reden wir nicht von der Selbstbestimmung, die wir uns wünschen. Denn ich kann nicht selber entscheiden, wie und wo ich lebe und habe nicht die Möglichkeit, selber Assistenzpersonen einzustellen. Haben wir somit nicht einfach die Finanzierungsströme etwas verändert und müssten von einer subjektorientierten Objektfinanzierung sprechen?

Dem Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention «Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft» sind wir somit leider keinen Schritt näher.»

Art. 19: Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft: Menschen mit Behinderungen haben das Recht zu entscheiden, wie, wo und mit wem sie leben. Sie haben das Recht auf Unterstützung, damit sie selbständig leben können.

 

Aline Beutler: «Ist die Subjektfinanzierung noch nicht komplett durchdacht?»

Simone Leuenberger: «Teilweise, ja. Im Kanton Bern haben wir die Möglichkeit, selber Leute anzustellen. Wir haben drei Kategorien von Leistungserbringern:

- Institutionen für Menschen mit Behinderung

- Selbständige Anstellung von Assistenzpersonen

- Assistenzdienstleister/-innen (vergleichbar mit Spitex-Organisationen)

Bei der dritten Kategorie bin ich mir allerdings noch nicht sicher, ob die Tarife so kostendeckend sind, dass es sich für die Assistenzdienstleister/-innen lohnt. Leider kenne ich (noch) keine Assistenzdienstleister/-innen. Hier sind wir auf Pioniere angewiesen, die diese Dienstleistung anbieten und ihre Erfahrungen an die Politik weitergeben.

In anderen Kantonen sind wir leider noch nicht so weit.»

 

Aline Beutler: «Wie sieht es in unseren Nachbar-Ländern aus?»

Simone Leuenberger: «In Deutschland und Österreich werden Assistenzpersonen durch Dritte gezielt für Menschen mit Behinderung eingestellt. Diese Assistenzdienstleister/-innen werden in der Regel von Genossenschaften betrieben, hinter denen Menschen mit einer Behinderung stehen. Für den Menschen mit Behinderung bedeutet dies, dass er eine persönliche Assistenzperson zur Verfügung hat, die nicht von Einsatz zu Einsatz springt. Bei diesem Modell liegt die Personalverwaltung nicht in der Verantwortung des Menschen mit einer Behinderung. Ausserdem haben Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Assistenzdienstleister/ der Assistenzdienstleisterin geeignetes Personal zu rekrutieren.

Dies kommt der persönlichen Assistenz, wie wir sie kennen, sehr nahe, d.h. dass wir selbst Arbeitgeber/-in sind.

Ein solches Modell ist auch in der Schweiz denkbar. Der Leistungserbringer / die Leistungserbringerin muss in der Lage sein, die Weisungsfunktion abzugeben. In unserem Fall müsste dieses Recht auf die Person mit einer Behinderung übertragen werden. So entscheidet die Person über die Art der Unterstützung. Natürlich muss sich die Art der Unterstützung innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen. Die Mithilfe bei einem Banküberfall ist zum Beispiel nicht erlaubt.»

 

Aline Beutler: «Kannst du dir erklären, warum die Schweiz ein solches Modell noch nicht umsetzt?»

Simone Leuenberger: «Die Schweiz ist sehr stark vom Fürsorge-Gedanken geprägt. In diesem werden Menschen mit Behinderung versorgt. Im doppelten Sinne des Wortes: Sie werden in einer Institution versorgt und von Fachpersonal versorgt.

Vor kurzem habe ich mit einer Kollegin über Einsamkeit gesprochen. Ich erklärte ihr, dass Menschen mit Behinderung in der Schweiz nicht das Recht auf Verwahrlosung haben. Vielleicht ein wenig provokativ. Aber ich kann auch noch weiter gehen: Menschen mit Behinderung haben nicht das Entscheidungsrecht, sich zu betrinken oder kriminell zu werden. Natürlich will man das verhindern, aber Menschen mit Behinderung haben nicht einmal die Möglichkeit, das zu tun. Menschen mit Behinderung werden also bevormundet. Diese Bevormundung kostet den Staat sehr viel Geld. Das geht in die Richtung von Ableismus[1]. Menschen mit Behinderung wird nichts zugetraut oder sie sind die "Superbehinderten".

Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, sind an diese Bevormundung gewöhnt. Sie wissen gar nicht, dass es auch anders sein könnte. Ein kleines Beispiel: Ich spiele Powerchair Hockey, d.h. Hockey im Elektrorollstuhl. Wir trainieren in der Turnhalle einer Institution. Viele meiner Mannschaftskamerad/-innen leben in der gleichen Einrichtung. Andere haben es auch geschafft, die Institution zu verlassen, haben eine eigene Wohnung und leben mit Unterstützung. Ich sehe hier grosse Unterschiede. Menschen, die in Einrichtungen leben, haben kaum Visionen, Ideen oder Wünsche. Es ist alles gut, man schaut zu ihnen, sie fühlen sich wohl und sie sind zufrieden. So lassen sie auch schon mal einen Match ausfallen, obwohl das Powerchair Hockey ein zentraler Bestandteil ihres Lebens ist. Warum ist das so? Weil vor Monaten die Wochenenden bei den Eltern geplant wurden und aus diesem Grund kein Fachpersonal an diesem Wochenende vor Ort ist. Die Menschen mit Behinderung nehmen dies so hin.»
 

[1]Ableismus beschreibt ein komplexes und vielschichtiges System von Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber Menschen mit Behinderung. Komplex, weil diese Art der Diskriminierungen nicht nur durch Verachtung, sondern auch durch wohlwollende Haltungen zum Ausdruck kommt. Vielschichtig, weil Menschen mit Behinderungen sie tagtäglich erleben.

 

Aline Beutler: «Hast du das Gefühl, dass sich Menschen mit Behinderung mehr wehren würden, wenn sie wüssten, worauf sie Recht haben?»

Simone Leuenberger: «Natürlich, aber die Realität zeigt, dass viele Menschen mit Behinderung ihre Rechte immer noch nicht kennen.

Menschen mit Behinderung, die in einer Institution leben, wissen zum Beispiel nicht, dass sie für ihren Müll bezahlen müssen oder keinen eigenen Briefkasten haben.

Auch die Barrierefreiheit ausserhalb einer Institution ist oft unzureichend. Dadurch werden wichtige Zugänge verwehrt.»

 

Aline Beutler: «Siehst du Lichtblicke für die Schweiz?»

Simone Leuenberger: «Auf jeden Fall. Dafür müssen wir Menschen mit Behinderung uns wagen, für unsere Rechte einzustehen und die Umsetzung fordern. Um dies zu erreichen, brauchen wir auch Unterstützer/-innen, die uns dies zutrauen und auch für uns da sind, wenn es brennt. Ich bin davon überzeugt, dass wir Menschen mit Behinderung mehr Zufriedenheit im Leben verspüren werden.»

 

Aline Beutler: «In Institutionen muss die persönliche Freiheit oft dem Kollektiv unterstellt werden. Hast du ein Beispiel dafür?»

Simone Leuenberger: «Ich sehe noch viel Optimierungspotenzial bei der Religionsfreiheit für Menschen mit Behinderung. Es kann sehr schwierig sein für Menschen mit Behinderung, die ihren Glauben in einer Institution ausüben wollen. Meiner Meinung nach ist die Seelsorge im Gefängnis besser als in Behinderteneinrichtungen. Ein Gefängnisinsasse / eine Gefängnisinsassin kann zum Beispiel Besuch von einem Priester bekommen. Ein behinderter Mensch kann jedoch am Sonntagmorgen nicht am Gottesdienst teilnehmen, da der "Brunch" jeden Sonntagmorgen stattfindet. Ausserdem fehlt es oft an Mitteln, um einen Kirchenbesuch zu begleiten.

Ich selber bin im Verein Glaube und Behinderung. Wir durften den Film «zmitztdrin» produzieren, der insbesondere das Thema Inklusion in der Kirche aufgreift. Darin kommen verschiedene Personen zu Wort, die darüber sprechen. Ich empfehle diesen mal zu schauen.

Letztlich ist die Kirche Teil der Gesellschaft, und Menschen mit Behinderung sind auch ein Teil davon. Können sie die Kirche nicht besuchen, dann fehlen sie.»

 

Aline Beutler: «Wie können wir sicherstellen, dass die Meinungen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ernst genommen werden, unabhängig davon ob sie sich verbal äussern können oder nicht?»

Simone Leunberger: «Wir Menschen mit Behinderung brauchen die richtigen Hilfsmittel, um besser und gezielter kommunizieren zu können, zum Beispiel die Unterstützte Kommunikation (UK). Menschen ohne Behinderung müssen lernen, zuzuhören, und zwar nicht nur mit den Ohren. Auch Menschen, die sich nicht verbal äussern können, haben eine Meinung. Diese müssen ernst genommen werden. Es hilft niemandem, nur zu reagieren, statt zu agieren.»

 

Aline Beutler: «Kannst du mir einen Einblick in deinen selbstbestimmten Alltag geben?»

Simone Leuenberger: «Mein Tag beginnt bereits am Vorabend. Ich sage meiner persönlichen Assistenzperson, wann ich aufstehen und das Haus verlassen möchte. Sie plant dann mit mir meine Weckzeit. Nachts kann ich die Assistentin jederzeit rufen, um beispielsweise umgelagert zu werden, da sie nur für mich zuständig ist. So finde ich schnell wieder in den Schlaf.

Am Morgen hilft mir meine persönliche Assistentin beim Aufstehen. Aufgrund meiner Muskelkrankheit brauche ich Unterstützung bei allen kraftaufwändigen Tätigkeiten wie Ankleiden und Zähneputzen. Sobald ich im Rollstuhl bin, bin ich recht selbständig.

Mein Alltag variiert. Ich bin Grossrätin des Kantons Bern (EVP) und fahre selbständig mit meinem Auto zu den Sessionen. Zudem unterrichte ich Wirtschaft und Recht am Gymnasium Thun. Auch dorthin fahre ich selbst hin. In beiden Umfeldern erhalte ich die nötige Unterstützung, sei es beim Türöffnen oder beim Aufheben eines Stifts.

Simone Leuenberger, Grossrat
Simone Leuenberger, Schule

Weiter arbeite ich für Agile als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Sozialpolitik. Ich bin verantwortlich für das Dossier Assistenz. Agile ist eine Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung. Diese Arbeit mache ich oft im Home Office.

An Tagen zu Hause esse ich mittags bei meinen Nachbarn. Meine WG-Kollegin, die auf einem Bauernhof arbeitet, erledigt für uns den Haushalt. Nachmittags bin ich wieder selbständig. Abends geniesse ich das WG-Leben mit ihr.

Ich gehe flexibel ins Bett, meist um 22:00 Uhr, aber auch früher oder später, je nach Bedarf. Diese Flexibilität ist Teil meiner Selbstbestimmung. Auch spontane Änderungen, wie nach einer Veranstaltung später heimzukommen, sind kein Problem, da ich Assistentinnen anstelle, die auch flexibel sind. Diese Selbstbestimmung und Lebensqualität, wie das Anziehen von Hausschuhen, auch wenn ich sie im Rollstuhl nicht brauche, sind für mich wichtig und Teil meiner Identität und Persönlichkeit, die ich wahren will und kann.»

 

Aline Beutler: «Welche Wünsche hast du für Menschen mit Behinderung in Zukunft?»

Simone Leuenberger: «Dass sie viele Verbündete haben und als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt sind.» 

 

Danke für das Interview

Vielen Dank an Simone Leuenberger für das spannende und informative Interview. Es war und ist sehr bereichernd zu hören, wie eine behinderte Person Selbstbestimmung und Inklusion in unserer Gesellschaft wahrnimmt. Dies ermutigt uns, im Alltag die Perspektive zu wechseln und den Weg in eine barrierefreie Zukunft mitzugestalten.

 

Ein Perspektivenwechsel ist dringend notwendig!

Sprechen Sie mit Menschen mit Behinderung, denn auch sie haben eine Meinung! Hören Sie sich ihre Sichtweise an und hinterfragen Sie kritisch unsere gesellschaftlichen Normen und Werte.

Eine Empfehlung von unserer Seite: Die Blogbeiträge von Simone Leuenberger geben einen Einblick in ihre Welt und zeigen Hindernisse und Erfolge bei der Umsetzung von Behindertenrechten. Sie sind sehr lesenswert.

 

 

Quellen:

 

Abbildung:

  • Dirk Meisel, EVP (2024): Simone Leuenberger, Behindertenpolitik
  • zVg (2024): Simone Leuenberger, Grossrat
  • Markus Zuberbühler (2024): Simone Leuenberger, Schule