Der personenzentrierte Ansatz in der Praxis: Ein Blick hinter die Kulissen des AWZ Kleindöttingen

Heute nehmen wir Sie mit in die faszinierende Welt des Arbeits- und Wohnzentrums (AWZ) in Kleindöttingen. Unser Ziel ist es, Ihnen einen detaillierten Einblick in die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu geben, die auf dem personenzentrierten Ansatz basiert. Dieser Ansatz betont nicht nur die Einzigartigkeit jedes Individuums, sondern setzt auch auf Empathie, Wertschätzung, Respekt sowie auf Authentizität. 

Bevor wir uns mit der Praxis befassen, wollen wir einen ausführlichen Blick auf den theoretischen Hintergrund werfen. Der personenzentrierte Ansatz, der unter anderem von dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers (1902-1987) entwickelt und von der Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Marlis Pörtner (1933-2020) weiterentwickelt wurde, basiert auf dem humanistischen Menschenbild. Dabei wird jeder Mensch als eigenständiges, wertvolles Individuum wahrgenommen, das über eigene Fähigkeiten und Ressourcen zur Problemlösung und Veränderung verfügt. Im Rahmen des personenzentrierten Ansatzes spricht man auch von der personenzentrierten Haltung. Diese besteht aus drei grundlegenden Komponenten:

  • Empathie (oder einfühlsames Verständnis)
  • Wertschätzung (oder nicht wertende Akzeptanz)
  • Kongruenz (oder Echtheit)

Um mit diesem Wissen personenzentriert arbeiten zu können, ist es wichtig zu wissen, was die grundlegenden Handlungsprinzipien sind. Die folgenden Prinzipien werden hier aufgezählt:

  • Gleichgewicht zwischen Rahmen und Spielraum
  • Klarheit
  • Erleben als zentraler Faktor
  • Nicht was fehlt, ist entscheidend, sondern was da ist
  • Die kleinen Schritte
  • Der Weg ist ebenso wichtig wie das Ziel
  • Vertrauen auf Entwicklungsmöglichkeiten
  • Selbstverantwortung

In der Arbeit mit Menschen mit einer Beeinträchtigung konzentriert sich der Ansatz insbesondere auf Teilhabe, Selbstbestimmung und Selbstermächtigung. 

Doch wie wird der personenzentrierte Ansatz im Alltag umgesetzt? Wir haben das AWZ in Kleindöttingen besucht, um das herauszufinden. Ein Interview mit Karin Filli, Bereichsleiterin Wohnen, gibt einen Einblick, wie dieser Ansatz umgesetzt und gelebt wird. Das AWZ bietet im Auftrag des Kantons Aargau Arbeits-, Beschäftigungs- und Wohnplätze für Menschen mit Einschränkungen an.

Schon beim ersten Blick auf die Website des AWZ in Kleindöttingen sind die Beschreibung und die damit verbundene Haltung innerhalb der Institution eindrücklich. So heisst es zum Beispiel in der ersten Überschrift «Auf Augenhöhe».

«Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Wir sind gleichwertige Menschen mit unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen.» 

So steht der Wunsch nach höchstmöglicher Lebensqualität für die Klient:innen im AWZ im Vordergrund. Selbstbestimmtes Leben und Arbeiten ist Teil des Auftrags und wird mit Leidenschaft umgesetzt. Menschen mit Beeinträchtigung und Mitarbeitende werden als gleichwertig und einzigartig betrachtet und behandelt. 

Als wichtiges Instrument innerhalb der personenzentrierten Arbeit gilt das Konzept Lebensgestaltung, welches sich mit der Gegenwarts- und Zukunftsplanung auseinandersetzt. 

«Im Fokus unseres Tuns liegt die grösstmögliche Selbstbestimmung und Lebensqualität der Klientel. Betriebliche Prozesse sind auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ausgerichtet.» 

Karin Filli, Bereichsleiterin Wohnen

Der personenzentrierte Ansatz in Aktion: 

Das Interview mit Karin Filli, Bereichsleiterin Wohnen

 

 

Aline Beutler: «Seit wann arbeiten Sie für das AWZ?»

Karin Filli: «Ich bin nun seit mehr als 9 Jahren beim AWZ tätig und konnte die Entwicklungen im Bereich der agogischen und sozialpädagogischen Arbeit massgeblich mitsteuern und entwickeln.»

Aline Beutler: «Wie sieht das personenzentrierte Arbeiten im Alltag aus?»

Karin Filli: «Um personenzentriert arbeiten zu können, ist es unabdingbar, sich intensiv mit der damit verbundenen Haltung auseinanderzusetzen und vertraute Prozesse neu zu denken. So führte zum Beispiel die noch immer vorhandene Vorgabe des Kantons, für alle Klient:innen einen Förderplan zu erstellen, zur Idee, die Persönliche Lagebesprechung (PeLa) einzuführen und offiziell als moderne Art der Förderplanung anzuerkennen. Seit 2016 wird die frühere Förderplanung erfolgreich durch die PeLa als Instrument ersetzt.» 

Aline Beutler: «Wie sieht und läuft eine Persönliche Lagebesprechung ab?»

Karin Filli: «Bevor eine PeLa startet, sind einige Abklärungen notwendig. Der:die Klient:in kann aus einem Bilderkatalog auswählen, wer die PeLa moderieren soll. Dafür wurden Angestellte des AWZ ausgebildet. Weiter darf der:die Klient:in entscheiden, welche Personen er oder sie gerne als Unterstützerkreis am Gespräch dabeihaben möchte. Zum Unterstützerkreis können Freunde, Familienmitglieder, Beistände, etc. gehören. Die Bezugsperson unterstützt den:die Klient:in in der Umsetzung seiner:ihrer Wünsche. Beispiel: Wenn er oder sie in den Urlaub fahren möchte, kann die Bezugsperson darauf hinweisen, dass es aus finanzieller Sicht sinnvoll ist, dies mit dem Beistand oder der Beiständin zu besprechen. Es kann aber auch vorkommen, dass weder die Eltern noch der Beistand oder die Beiständin daran teilnehmen. Die PeLa wird jährlich durchgeführt und besteht aus mehreren Teilen. Je nach  Kommunikationsmöglichkeiten der Klient:innen werden auch Piktogramme verwendet, damit der:die Klient:in aktiv an der Diskussion teilnehmen kann. Es wird auch darauf geachtet, dass das Gespräch in leichter Sprache geführt wird.

Zu Beginn wird eine Feedback-Runde aus der Sicht der Bezugsperson Arbeit, der Bezugsperson Wohnen und des:der Klienten:in durchgeführt. Dabei wird reflektiert, was im Alltag gut läuft und was weniger gut läuft. Direkt aus den jeweiligen Abteilungen mitgebrachte Piktogramme, wie z.B. ein Foto einer Nähmaschine am Arbeitsplatz, können dem:der Klient:in vermitteln, dass er oder sie an der Nähmaschine gute Arbeit leistet oder z.B. eine Uhr kann verdeutlichen, dass der:die Klient:in an der Pünktlichkeit arbeiten sollte. Dieses Feedback wird auf einem Flipchart festgehalten. 

Ein weiterer wichtiger Teil der Pela ist die Zukunftsplanung. Gut zu wissen: Nicht alle Klient:innen, die im AWZ arbeiten, leben auch dort. Dennoch konzentriert sich die Zukunftsplanung nicht ausschliesslich auf die Wünsche und Ziele des Arbeitsplatzes, sondern betrachtet die Person als Ganzes im Arbeits- und Privatleben. Aus den Rückmeldungen können sich erste Ideen/Wünsche ergeben, und weitere Wünsche können und sollen eingebracht werden. Hinter jedem Wunsch steht manchmal ein nicht auf den ersten Blick erkennbares Bedürfnis. Zum Beispiel äussert sich ein:eine Klient:in den Wunsch nach einem Urlaub in der Karibik. Dieser Wunsch kann vielleicht aufgrund finanzieller Engpässe nicht erfüllt werden. Der Moderator oder die Moderatorin ist nun aufgefordert, mit Fragen dem eigentlichen Bedürfnis auf den Grund zu gehen. So kann sich zum Beispiel ergeben, dass der:die Klient:in letzte Woche beim Arzt war und im Wartezimmer eine Zeitschrift mit einem Bild der Karibik, einem Liegestuhl, einem Strand und der Bildunterschrift  "Ihr nächster Urlaub in der Karibik" gesehen hat, wobei dem:der Klient:in besonders der gelb-weiss gestreifte Liegestuhl gefiel. Der Moderator oder die Moderatorin kann dem:der Klient:in nun erklären, dass es solche Liegestühle auch am Lago Maggiore gibt. So kann mit dem:der Klient:in ein Urlaub am Lago Maggiore statt des viel zu teuren Urlaubs in der Karibik vereinbart werden. Nun kann sich der:die Klient:in auf den nächsten Urlaub auf einem gelb-weiss gestreiften Liegestuhl freuen.

Sobald alle Zukunftswünsche definiert sind, ist der nächste Schritt der Aktionsplan. Im Aktionsplan wird die Umsetzung der Wünsche konkret geplant, wobei der Unterstützerkreis miteinbezogen werden kann. Es wird gemeinsam festgelegt, was von wem bis wann getan werden soll. Dies gibt dem:der Klient:in und allen Beteiligten das Gefühl von Ernstnehmen, Zutrauen und Verstehen. Die Bezugsperson des:der jeweiligen Klienten:in nimmt den Aktionsplan von Zeit zu Zeit hervor und überprüft die vereinbarten Massnahmen und erinnert die Beteiligten bei Bedarf daran.»

Aline Beutler: «Was ist der wesentliche Unterschied zwischen der PeLa und der abgelösten Förderplanung?»

Karin Filli: «Der wohl wichtigste Unterschied liegt in der Haltung. Die Bedürfnisse und Wünsche der Klient:innen stehen im Mittelpunkt und nicht die der Institution. Die PeLa verkörpert zudem echte Wertschätzung und Respekt gegenüber dem Menschen. Weiter sehen sich die Fachkräfte als Arbeitsmittel für die Klient:innen und agieren als Unterstützer und Unterstützerinnen.»

Aline Beutler: «Was sind für Sie Highlights in der Umsetzung des personenzentrierten Ansatzes?»

Karin Filli: «Die Klient:innen werden von den Mitarbeitenden in ihrer Selbstbestimmung und Selbstermächtigung unterstützt, damit sie möglichst unabhängig leben können. Zudem erleben sie einen durchwegs respektvollen und gleichberechtigten Umgang.»

Aline Beutler: «Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung?»

Karin Filli: «Auch soziale Grenzüberschreitungen sind natürlich im und ausserhalb des AWZ möglich. Wir begegnen allen auf Augenhöhe, dies bedeutet für alle auch, sich an die Regeln und Grenzen des Wohnbereichs und des Arbeitsplatzes zu halten. Klare Grenzen ermöglicht dem:der Klient:in das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, ein System zu erfahren und ihre persönliche Rolle in einer sozialen Gruppe zu finden. 

Manchmal ist diese Arbeitsweise für das Begleitpersonal etwas herausfordernder, weil vieles einfacher und schneller ginge, wenn die Fachperson die Entscheidungen treffen würde. Da jedoch der:die Klient:in den einzelnen Prozess vorgibt, erfordert dies oft mehr Zeit und mehr Auseinandersetzung mit der Situation.»

Foto einer persönlichen Lagebesprechung

Fotos und Impressionen: 

Persönlichen Lagebesprechung

Beispiel Feedbackrunde auf Flipchart

Beispiel: Feedbackrunde

Beispiel Zukunftsplanung und Aktionsplan auf Flipchart

Beispiel: Zukunftsplanung und Aktionsplan

Aline Beutler: «Was waren für Sie die größten Herausforderungen bei der Einführung des neuen Konzeptes im Jahre 2016?»

Karin Filli: «Das Konzept wurde von kritischen Stimmen als Wunschkonzert betitelt. Es musste Aufklärungsarbeit geleistet werden und die Erklärung, dass hinter jedem Wunsch ein Bedürfnis besteht, musste erläutert werden. Schlussendlich wollen wir die Klient:innen dazu befähigen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Für das Fachpersonal bedeutete dies einen Haltungswechsel, respektive eine intensive Auseinandersetzung mit der persönlichen Haltung.»

Aline Beutler: «Was möchten Sie uns unbedingt noch sagen?»

Karin Filli: «Das personenzentrierte Arbeiten steht und fällt mit der eigenen persönlichen Haltung gegenüber den Mitmenschen. Zudem sollen sich die Fachpersonen stetig folgende Frage stellen: Was kann ich als Fachperson zu einer erfolgreichen Entwicklung des:der Klienten:in beitragen?»

 

Ein Dankeschön ans AWZ Kleindöttingen und Karin Filli

Wir möchten uns herzlich beim AWZ Kleindöttingen und insbesondere bei Frau Karin Filli für die Offenheit und das informative Interview bedanken. Der Einblick, das gelebte Konzept der Lebensgestaltung und die wertschätzende Begleitarbeit haben uns nicht nur beeindruckt, sondern auch dazu motiviert, uns noch intensiver mit den Anliegen des Fachpersonals auseinanderzusetzen. 

Fazit: Ein halber Tag im AWZ Kleindöttingen – Eine Reise der Inspiration und Reflexion

Die Reise ins AWZ Kleindöttingen war eine tiefgehende Erfahrung. Sie ermöglichte nicht nur einen Einblick in die Welt des personenzentrierten Ansatzes, sondern auch eine Reflexion über die eigene Haltung gegenüber Mitmenschen. Die praxisnahen Einblicke in die PeLa zeigten, wie durch Wertschätzung, Empathie und klare Zielsetzung die Lebensqualität der Klient:innen gesteigert wird.

Möge dieser Blog-Beitrag dazu beitragen, das Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen zu vertiefen und den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft weiter zu ebnen. 

Wir werden auf jeden Fall dranbleiben.

 

 

Quellen:

  • Pörtner, Marlis (2014): Ernstnehmen – Zutrauen - Verstehen. Personenzentrierte Haltung im Umgang mit geistig behinderten und pflegebedürftigen Menschen. 9. Auflage, Stuttgart
  • AWZ – Arbeits- und Wohnzentrum (2022): Konzept Lebensgestaltung. Personenzentrierte Gegenwarts- und Zukunftsplanung. Version 1.4, Kleindöttingen
  • AWZ - Arbeits- und Wohnzentrum: Leitbild. Kleindöttingen

Abbildungen:

  • AWZ – Arbeits- und Wohnzentrum (2023): https://www.awzk.ch/ [Zugriff: 07.12.2023]
  • AWZ – Arbeits- und Wohnzentrum: Leitbild. Kleindöttingen